Jetzt weint der Papa!
Als ich Anfang letzten Jahres hörte, dass Thomas wieder heiraten wird, war mir nach Sektkorken knallen zumute. Siegrid, seine Herzensdame, schien ihm richtig gut zu tun, sodass ich mir eine gewisse Entspannung der Lage erhoffte.
Die Hochzeit sollte im August auf La Gomera sattfinden, wo Amor die beiden inmitten eines spirituellen Seminars mit seinem Pfeil getroffen hatte. Dort wollten sie sich im Kreise der gesamten Engels-Esoterik-Gemeinde feierlich das Ja-Wort geben, und natürlich sollte auch Katja dabei sein.
Die Sache hatte nur einen winzigen Haken. Katja hatte sich in den letzten sieben Jahren standhaft geweigert, auch nur eine einzige Nacht bei ihrem Vater zu verbringen.
Doch dank Lotti, der flauschigen Hundedame, die Siegrid mit in die Ehe gebracht und die Katjas Herz im Sturm erobert hatte, schien sich in dieser Angelegenheit endlich eine Wende abzuzeichnen.
„Weißt du Mama, jetzt, wo Lotti und Siegrid da sind, fühle ich mich sicher“, sagte sie eines Tages und packte gut gelaunt ihren Schlafanzug ein.
Eine Frage, die sich ihm nicht stellt
Das war im März 2017 und schon wenige Tage darauf erhielt ich von Thomas eine Mail, in der er mich erstmals von seinen Reiseplänen in Kenntnis setzte und mir auch gleich die Flugdaten für Katja mitteilte.
Ich wagte es, in meiner Antwort anzumerken, dass wir doch erstmal abwarten sollten, ob in den Osterferien die fünf geplanten Übernachtungen gut klappen würden, ehe man an einer fünfzehntägigen Flugreise bastelt.
Thomas war davon gelinde gesagt „not amused“.
„Es ist Katjas Recht, die Hälfte der Ferien bei Ihrem Vater zu verbringen, ich wiederhole mich hier. Auch die Frage “wenn das gut klappt” !!?? stellt sich mir nicht. Katja genießt jeden Moment hier bei uns. Also nimm bitte Abstand von falschen Darstellungen! Wir gehen jetzt davon aus, dass alle Unklarheiten beseitigt sind und dass Du Katja den Urlaub und das Fest zugestehst.“, schrieb er böse zurück.
Damit ich auch gleich wusste, woher der Wind wehte, setze er Frau Graf vom Jugendamt auf CC.
Zwischen Reiselust und Trennungsangst
Katja selbst war mir gegenüber in dieser Sache äußerst zwiespältig. Natürlich wäre sie schrecklich gerne mitgeflogen. Ich meine, welches Kind ist nicht für einen Urlaub am Meer zu begeistern? Aber sie konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen, so lange von Zuhause weg zu sein, noch dazu so weit.
Weil ich unsicher war, wie ich mich nun verhalten sollte, vereinbarte ich einen Termin bei Frau Ludwig, Katjas ehemaliger Kindertherapeutin. Sie ging sogar noch weiter als ich und meinte, dass selbst wenn die Woche in den Osterferien gut laufen würde, eine Flugreise nicht zu empfehlen sei, weil die Entfernung München – La Gomera eben eine ganz andere Hausnummer als München – Dießen wäre.
Trotzdem blies ich das Unterfangen nicht von vornherein ab.
Erstens wollte ich Katja nicht ausbremsen und zweitens trieb mir die Angst, Thomas würde die Reise dann per Gerichtsbeschluss durchdrücken, den kalten Schweiß auf die Stirn. Für solche Späße war mein Nervenkostüm zu dünn.
Also beschloss ich, erstmal die Osterferien abzuwarten und dann nochmal nachzufühlen, wie bei Katja die Aktien in Sachen Flugreise stehen.
Tatsächlich liefen die Übernachtungen in den Ferien gut, aber was La Gomera anbelangte, schwankte sie nach wie vor zwischen Reiselust und Trennungsangst. Ich war also auch nicht schlauer als vorher.
Die Entscheidung und ihre Folgen
Mitte Mai kam Katja dann von einem Papa-Wochenende heim und meinte etwas geknickt, dass sie wirklich gerne mitfliegen würde, wenn ich es nur erlauben würde.
Das bestürzte mich. Hatte sie zu mir etwa nur gesagt, sie würde sich nicht trauen, weil sie dachte, ich würde das gerne hören? Das wäre ja furchtbar. „Wenn du gerne mitfliegen magst, dann mach das unbedingt!, sagte ich deswegen zu ihr und war erleichtert, dass damit endlich eine Entscheidung getroffen war. „Ich freu mich, wenn es dir gut geht und du hast auf Gomera bestimmt eine tolle Zeit!“
Klar, ich hatte noch Frau Ludwigs Worte im Ohr, aber ich wollte auf gar keinen Fall diejenige sein, die die Reise verbietet, wenn Katja es sich zutraut. Schließlich war sie 11 Jahre alt, von meiner Seite aus gab es keinen Grund, dagegen zu sein.
Doch kaum war der Flug beschlossene Sache, kamen ihr wieder Zweifel. Untertags hielten sich diese im Rahmen, aber abends wurde sie buchstäblich von Todesängsten übermannt. Sie hatte Angst, dass der Flieger abstürzt und wenn ich ihr dann sagte, dass unsere Fahrt mit dem Auto an den Gardasee viel gefährlicher sei, war sie plötzlich überzeugt, dass ich während ihrer Abwesenheit sterben und sie mich nie mehr wiedersehen würde.
Mit der Realität hatte das alles nichts mehr zu tun, es half kein Argument und kein gutes Zureden, sie steigerte sich immer mehr hinein und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis sie – wahrscheinlich aus purer Erschöpfung – ruhiger wurde. Morgens hatte ich dann tiefe Ringe unter den Augen und Katja standen die vielen Tränen vom Vorabend auch noch ins Gesicht geschrieben.
Wir hatten jetzt erst Mitte Mai. Wenn das bis Ende August so weitergehen würde, dann wären wir beide reif für die Klapsmühle.
Ein Anruf mit Kreuzverhör
Ich hätte Thomas auf den Mond schießen können. Nur weil er in seiner gewohnt empathielosen Art, Schnapsideen in die Welt setzt und durchdrücken will, die vollkommen an Katjas Bedürfnissen vorbeigehen, gerät unser Alltag wieder einmal komplett aus den Fugen.
Katja aber, das personifizierte Pflichtbewusstsein, sah sich an ihr Wort gebunden. Für sie gab es kein Zurück mehr. Sie hatte zugesagt, die Reise war gebucht. Fertig, aus, basta.
Erst nach ein paar Tagen, als wir beide total mürbe waren, fragte ich nach, ob sie sicher wüsste, dass schon gebucht sei. Da fasste sie sich ein Herz und rief ihn an.
Sie erwischte Thomas und Siegrid im Auto. „Nein, ich hab noch nicht gebucht, das wollte ich morgen machen“, meinte Siegrid. Unendliche Erleichterung machte sich in Katjas Gesicht breit und sie gestand leise, dass sie sich doch nicht trauen würde. Es folgte ein langes Kreuzverhör, warum und weshalb und dass es wahnsinnig schade sei und so weiter und so fort, bis Thomas schließlich beleidigt sagte: „Ja, dann ist das ganz einfach Katja, wenn du nicht fliegen willst oder kannst, dann lassen wir das.“
Katja versuchte sofort, ihn wieder zu besänftigen: „Ihr fliegt ja so oft, vielleicht kann ich ja beim nächsten Mal mitfliegen.
„Ob du nun heuer oder nächstes Jahr fliegst, ich weiß nicht, was dann anders sein soll!“ antwortete Thomas genervt.
Ich hatte schon Bedenken, dass sie jetzt einknicken und zurückrudern würde. Aber im Gegensatz zu ihrem Vater war ihr klar, dass Kinder sich entwickeln und dass das, was sie sich heute noch gar nicht traut, morgen vielleicht schon wieder langweilig ist. Ich denke nur an das Kinderkarussel, das nur ganz kurze Zeit eine tolle Sache war. Vorher hatte sie fast Panik und nachher war es Babykram. Na ja, woher soll er es auch wissen? Schließlich hat er das alles fast lückenlos verpasst.
„Ja da bin ich halt schon ein bisschen größer, dann hab ich irgendwie mehr Mut, oder so …“, antwortete sie kleinlaut.
Schlimme Schuldgefühle auf Kinderschultern
Katjas hatte schon die ganze Zeit Tränen in den Augen und ihre Stimme drohte jeden Moment zu kippen, aber kaum hatte er aufgelegt, weinte sie bitterlich.
„Jetzt bin ich die einzige, die nicht mitfliegt. Die Zeit ist einfach zu kurz zum Überlegen. Ich finde das einfach auch übertrieben, dass man eine Hochzeit in einem anderen Land feiert!“, brach es mit einer Mischung aus Enttäuschung und Ärger aus ihr heraus.
Dann stand sie einfach nur da, mit hängenden Schultern.
„Und jetzt weint der Papa!“ schluchzte sie.
„Meinst du?”, fragte ich, obwohl ich auch gehört hatte, wie groß seine Enttäuschung war.
„Ja, weil er jetzt traurig ist. Weißt du noch, als ich klein war und gesagt hab, ich hab Heimweh, da hat er geweint. Und deswegen, weißt du, das war so schlimm, und deswegen hab ich auch immer so schlimme Schuldgefühle. Wahrscheinlich weil er geweint hat, weil ich gegangen bin. Verstehst du? Ich glaub deswegen!“
Puh, ich dachte eigentlich, dass sie das schon längst vergessen hätte.
„Vielleicht denkt er jetzt, dass du mir wichtiger bist als er?“, überlegte sie fieberhaft, „weil ich hätte ja auch richtig weinen können, weil ich Angst habe, dass ich IHN nicht mehr sehe. Aber das hatte ich nie. Verstehst du?”
“Aber um Gottes Willen Spatzi, nur weil du daran nicht gedacht hast, heißt das doch noch lange nicht, dass du ihn weniger lieb hast!“, versuchte ich sie zu entlasten. „Du hast ihr ganz fest lieb und das weiß er auch.“
„Ja, vielleicht, aber er tut mir immer so leid und ich trau mich nicht richtig, dass ich ihm sage, dass es mir Scheiße geht. Ich hab zwar auch schon mal vor ihm geweint, aber das war in meinem ganzen Leben dreimal in den ganzen 11 Jahren.“
„Wieso tut er dir leid? Er ist doch jetzt so glücklich mit seiner Siegrid.“
„Ich weiß, aber er tut mir trotzdem leid. Weißt du, die Oma Martha und der Opa Franz, die sind so gemein zu ihm. Die kommen nicht mit. Die haben gesagt, wegen so einem Scheiß – und da haben sie die Hochzeit gemeint – fliegen sie doch nicht extra nach Gomera!“
Mann, Mann, Mann! Dass Franz so eine Gemeinheit vom Stapel lässt, wundert mich gar nicht, aber dass Martha es ihm gleich tut, muss für Thomas wirklich schlimm sein. Das tut mir schrecklich leid für ihn.
Aber trotzdem, es kann nicht sein, dass nun die ganze Last auf Katjas Schultern liegt. Das geht gar nicht!
„Und jetzt denkst du, dass du ihm nicht auch noch absagen kannst?“
„Ja!“, rief sie verzweifelt
“Bestimmt würde er sich wahnsinnig freuen, wenn du mitfliegen würdest. Aber weißt du, was ihm am wichtigsten ist, Spatzi?
Das ist, dass du ein leichtes Herz hast. Und wenn du jetzt so ein schweres Herz hast, dann ist das für ihn noch viel schlimmer!“
Thomas und das Glück
„Ja, ich weiß, aber … irgendwie tut er mir trotzdem leid, weil er immer so ein Pech hatte.“
„Aber er hat doch auch ganz viel Glück in seinem Leben. Schau …“
„Ja, jetzt vielleicht …“
„Na ja, auch schon früher. Schau mal, er war mit der Mama von Anna und Phillip lange glücklich und als dann die beiden auf die Welt kamen, war das für ihn ein großes Glück. Und wir beide, er und ich, wir hatten auch eine richtig schöne Zeit. Und dann bist du gekommen, auch ein ganz großes Glück, gell? Und jetzt hat er die Siegrid. Also ich finde, er erlebt viele tolle Sachen in seinem Leben.
Wenn er jetzt enttäuscht ist, weil er dich gerne dabei gehabt hätte, dann tröstet ihn die Siegrid. Hast du gehört, wie gut sie das drauf hat? Die tröstet ihn jetzt ganz bestimmt.
Außerdem ist ja der Papa der Große und du die Kleine. Und du weißt ja, die Großen müssen für die Kleinen sorgen, nicht umgekehrt.“
Das schien nun endlich Sinn für sie zu machen und ihr Gewissen zu entlasten. Jetzt konnte die Erleichterung darüber, keine Angst mehr vor der Reise haben zu müssen, Oberhand gewinnen.
Engel! Engel bitte kommen!
Hach, du lieber Himmel! Mögen doch bitte mal die Engel auf La Gomera Thomas flüstern, dass das Loch in seiner Seele niemand anders als er selbst stopfen kann.
Am allerwenigsten sein Kind.
Und bis zu diesem Tag, an dem dieses Wunder geschehe, möge Siegrid an seiner Seite verweilen und diesen Job erledigen, damit Katja sich möglichst wenig dafür verantwortlich fühlen muss.
Carola Fuchs
Eigentlich war das Loch in Thomas’ Seele von Anfang an das Grundproblem.
“Mama zwischen Sorge und Recht” erzählt die ganze Geschichte.