Schrei nach Geborgenheit
Nach einem Samstag bei ihrem Papa Thomas berichtete mir Katja empört, dass Thomas fast geweint hätte, weil Opa Franz so gemein zu ihm war. Sie waren zu Oma und Opa gefahren und Thomas war seinen Eltern im Garten zur Hand gegangen, wobei er sich mit der Rosenschere in die Hand geschnitten hatte. Opa Franz, der bequem in seinem Gartensessel saß und Aufträge erteilte, nahm dies zum Anlass, Thomas zu erklären, wie unfähig er schon immer gewesen sei.
Die Achillesferse
Wahnsinn. So eine Unverschämtheit!
Natürlich weiß ich, dass dieses Versagen von Anerkennung, Liebe und Geborgenheit von frühester Kindheit an, Thomas‘ Achillesferse war und immer noch ist. Das hat mir schon sehr leidgetan, als wir noch zusammen waren und daran hat sich – selbst nach allem was geschehen ist – nichts geändert.
Diese Episode ist mir beim Lesen von „Schrei nach Geborgenheit“ wieder eingefallen.
Noch nie hat mich ein Sachbuch derart berührt, wie diese kleine Kostbarkeit von Gundula Göbel:
Ein Puzzle fügt sich zusammen
Auch wenn ich viele der Aussagen im Grunde schon kannte, hat es Gundula Göbel geschafft, die isolierten Einzelerkenntnisse zu einem vollständigen Puzzle zusammenzufügen.
Erfährt ein Kind keine Geborgenheit, kann es kein Selbstbewusstsein und keine Empathie entwickeln. Somit fehlt das ganze Fundament für ein erfülltes Leben. Das Schlimme ist, dass derjenige, der nie bekommen hat auch nicht geben kann und sich dieser belastende Bindungskreislauf über Generationen hinweg fortsetzt. Opfer werden zu Tätern.
Nach der Lektüre des kleinen Büchleins verstehe ich viel besser, warum unsere kleine Familie in tausend Scherben zerbrochen ist, ja zerbrechen musste.
Thomas, dessen Schrei nach Geborgenheit nie erhört wurde, hat damit eine schwere Bürde auferlegt bekommen. Als unsere kleine Katja zur Welt kam, und ich IHR das gab, wonach ER sich sein ganzes Leben lang vergeblich gesehnt hatte, geriet er völlig außer Kontrolle. Er forderte vehement ein, dass ich sie schreien lassen sollte, er schüttelte das Baby und wandte gegen mich Gewalt an.
Die Situation gipfelte in einer Morddrohung, die er mir in Ohr raunte und mein Blut gefrieren ließ.
Den Kreislauf durchbrechen
Intuitiv wusste ich, dass ich auf keinen Fall bei ihm bleiben konnte. Mir, aber vor allem Katja zuliebe!
Heute weiß ich, dass ich damit diesen belastenden Bindungskreislauf durchbrochen und es nicht zugelassen habe, dass auch Katja zum Opfer wurde.
Hätte ich das alles damals schon gewusst, hätte ich mir viele schlaflose Nächte erspart, in denen ich mich immer wieder gefragt habe, ob ich nicht doch hätte bleiben sollen und ob ich Katja damit die Chance nehmen würde, in einer Familie groß zu werden.
Das Glück im Unglück finden
Apropos Katja, über sie brauche ich mir anscheinend wirklich keine Sorgen zu machen.
Dieses Ereignis mit dem Opa Franz beschäftigte sie sehr und wir unterhielten uns noch eine ganze Weile darüber, wie schlimm es für Kinder ist, wenn ihre Eltern so garstig sind und dass das auch nicht aufhört, wenn man längst erwachsen ist.
„Der Papa tut mir echt leid“, platzte es dann irgendwann aus ihr heraus, „aber irgendwie bin ich auch froh, dass der Opa Franz so ist. Sonst gäb‘s mich ja gar nicht.“
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich irritiert.
„Wenn der Opa Franz den Papa liebgehabt hätte, dann wäre er nicht so ein schwieriger Mensch geworden und er wäre immer noch mit der Mama von Anna und Phillip zusammen. Dann hättet ihr euch nie verliebt und mich gäb’s nicht. Deswegen ist es doch eigentlich ganz gut so, wie es ist.
„Ja, alles ist gut!“, sagte ich, nahm sie in die Arme und verdrückte ein paar Tränchen. „Du bist das absolut Beste, was es überhaupt gibt!“
Wer wie sie in der Lage ist, immer das Glück im Unglück zu finden, hat den Schlüssel für ein zufriedenes Leben in der Hand.
Ich glaube, da hab ich einiges richtig gemacht. 🙂
Gundula Göbels „Schrei nach Geborgenheit“ ist ein ansprechendes, übersichtliches und leicht zu lesendes Büchlein mit einleuchtenden Schaubilder und Impulsnotizen in der Randspalte. Ich möchte fast sagen, es ist eine alltagspraktische Fundgrube.
„Schrei nach Geborgenheit“ empfehle ich daher all denjenigen, die …
… ihre eigenen Kinder über die gesamte Kindheit hinweg möglichst empathisch begleiten und emotional möchten.
… mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und angemessen auf ihre Bedürfnisse eingehen möchten.
… ihre eigene Geschichte besser verstehen möchten.
… so manche Not von Kinder und Erwachsenen verstehen möchten.
Gundula Göbel,
Schrei nach Geborgenheit, Briefgestöber,
2. Auflage (11. Februar 2014), broschiert, 117 Seiten,
14,90 €
Wer Lust auf die ganze Geschichte von Thomas, Katja und mir hat, wir hier fündig:
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