Was ein krankes Kind (nicht) braucht
Katja, meine zehnjährige Tochter, hat ein sehr arbeitgeberfreundliches Immunsystem: Sie wird ausschließlich in den Ferien krank.
Daher gab es in den letzten zwei Schuljahren keinen einzigen Tag, an dem neben meinem Namen „Krankes Kind“ am Vertretungsplan stand und die Kollegen meine Klassen übernehmen mussten.
Das klingt aufs Erste total unproblematisch.
Ist es aber nicht.
Denn in den Ferien liegen auch Umgangstage mit Thomas, Katjas Papa. Und wenn von diesen Papa-Tagen einer betroffen ist, dann wird es viel schwieriger, als wenn ich drei Wochen lang nicht in die Schule gehen könnte.
Die diesjährigen Faschingsferien begannen zunächst sehr vielversprechend. Leni, Katjas beste Freundin, hatte von Freitag auf Samstag bei uns übernachtet, weil Katja heute zum ersten Mal eine Freundin zu Thomas mitbringen durfte. Die beiden sind zusammen wie zwei Kichererbsen, jedoch ohne Off-Schalter. Dementsprechend war ich gespannt, wie der Papa-Tag verlaufen würde und schloss um 9:30 schmunzelnd die Tür, als die beiden vollkommen überdreht zu Thomas ins Auto stiegen.
Überpünktlich, um 17:56 – normalerweise verspätet er sich mindestens um eine halbe Stunde – klingelten Katja und Leni, immer noch kichernd, an der Tür. Die beiden hatten also in jedem Fall ihren Spaß. Als wir Leni zuhause abgeliefert hatten und Katja wieder normal sprechen konnte, bestätigte sich aber meine Vermutung.
„Ich glaube der Papa war traurig, dass er mich nicht für sich alleine hatte“, überlegte sie laut vor sich hin.
„Na ja“, gab ich zu bedenken, „morgen holt er dich ja wieder ab, dann habt ihr zwei einen ganzen Tag für euch alleine.“ Und schon hellte sich ihre Miene deutlich auf.
Kranksein kommt nie gelegen
Doch mitten in der Nacht zupfte etwas an meinem Ärmel und flüsterte „Mama, mir geht’s nicht so gut.“ Hals-, Kopf- und Gliederschmerzen plagten sie und unterbrachen fortan immer wieder unser beider Schlaf. Am Morgen waren wir richtiggehend erschlagen, ich wegen dem Schlafmangel, Katja wegen einer voll durchgebrochenen Erkältung.
An ein Frühstück war nicht zu denken, dazu fehlte dem Kind der Appetit, vor allem aber die Kraft sich hinzusetzen. „Ich fürchte, da werden wir wohl dem Papa absagen müssen“, folgerte ich, als ich das Fieberthermometer mit 38,9 °C aus dem Ohr zog.
„Nein Mama, nicht anrufen, sonst will er mit mir reden und dann muss ich weinen“, flehte sie mich an.
„Warum musst du dann weinen?“, fragte ich etwas verwirrt.
„Weil er bestimmt traurig ist, wenn ich nicht komme. Schreib ihm lieber! Du musst ihm schreiben, dass ich schon gern zu ihm kommen würde, aber ich einfach zu schlapp bin.“
Nein ist ein schweres Wort für den der es sagt und für den der es hört
Wie von mir vermutet, läutete 3 Minuten nach dem Absenden der SMS das Telefon. Thomas. Er will Katja sprechen. Mit einem herzerweichenden Blick nimmt sie zögernd den Hörer entgegen.
„Hallo, meine Putzi-Maus, dir geht’s nicht so gut? Was hast du denn?“
Ich kann nicht schlucken und mein Kopf tut ganz fest weh.“
„Weißt du was, dann machen wir es uns heute eben ganz gemütlich. Wir gehen ein bisschen am See spazieren und dann mach ich dir einen schönen heißen Tee.“
„Aber ich kann doch gar nicht aufstehen, ich glaub ich schaff das nicht“, antwortete sie und warf mir einen hilflosen Blick zu.
„Also ich glaub, das hat dir die Mama wieder eingeredet. Du kannst bei mir doch auch krank sein. Ich hab mich so auf dich gefreut und muss sagen, da bin ich jetzt wirklich traurig.“
„Wir könnten es ja so machen, dass ich wann anders dafür zu dir komme“, versucht sie einzulenken.
„Weißt du, ich hab auch nicht immer Zeit. In der kommenden Woche muss ich arbeiten und nächstes Wochenende geht es auch nicht. Es muss ja nicht bis um 18:00 Uhr sein, ich kann dich ja zum Beispiel um 16:00 Uhr schon wieder heimbringen …“
Irgendwann merkte er, dass es auf der anderen Seite seltsam still geworden war.
„Weinst du?“, fragte er schließlich
„Ja“, schluchzte Katja kleinlaut und holte erst jetzt wieder tief Luft.
Selbstbeherrschung aus Erfahrung
Ich musste mich mit beiden Händen am Stuhl festhalten, damit ich nicht aufstand und das Gespräch übernahm. ‚Lass doch endlich das arme Kind in Ruhe. Du merkst doch, dass ihr hundeelend ist und sie wirklich nicht kann. Wie soll sie über eine halbe Stunde im Auto überstehen?‘, liegt es mir auf der Zunge.
Aber ich weiß aus leidvoller Erfahrung, dass ich dadurch alles noch viel schlimmer machen würde.
Das Gespräch würde in einen unsachlichen Streit münden und in seiner Wahrnehmung wäre mein Intervenieren der Beweis dafür, dass ich den Umgang boykottieren möchte. Er würde beim Jugendamt wieder Märchen erzählen, wie hinterhältig ich ihm sein Kind vorenthalte und möglicherweise sogar Ordnungsgeld wegen Umgangsverweigerung beantragen.
Der einzige Weg aus dem Schlamassel ist der, dass Katja lernen muss, ihm gegenüber ihre Entscheidungen – notfalls auch ein Nein – durchzusetzen.
Das klappt bisweilen schon ganz gut, z.B. wenn sie am Papa-Wochenende zu einer Geburtstagsfeier eingeladen ist oder ihre Waldgruppe so ungünstig verschoben wurde.
Aber ich weiß, dass sie sich jedes Mal aufs Neue überwinden muss und mit ihrem schlechten Gewissen kämpft, weil sie Angst hat, ihn zu verletzen.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, gab Thomas nach und verzichtete auf seinen Umgangstag.
Sicher ist sicher
Da ich mir bei Thomas nie sicher sein kann, ob er nicht doch wieder mit Kanonen auf Spatzen schießt und mir das Jugendamt auf den Hals hetzt, habe ich noch an diesem Sonntagnachmittag Katjas Kinderärztin gebeten, nach ihr zu sehen. Als die gute Frau vor dem Häufchen Elend stand und den Streptococcen-Schnelltest abwartete, fragte sie mich etwas befremdet. „Aber Frau Fuchs, wofür brauchen Sie denn ein Attest? Das weiß doch jeder, dass ein fieberndes Kind die Mama braucht und zu Hause im Bett bleiben muss.“
Ja, eigentlich weiß das jeder. Eigentlich.
Wer hat jetzt wem leidgetan?
Am Abend, als Katja den soeben getrunkenen Kamillentee wieder erbrochen hatte, ging es ihr plötzlich besser. Sie putzte sich die Zähne, zog einen frischen Schlafanzug an und vermeldete einen Hauch an Appetit.
Während sie an ein paar Salzstangen knusperte, resümierte sie zu dem Tag: „Ich bin froh, dass ich daheim geblieben bin. Aber mir tut halt der Papa immer so leid.“
„Hm“, sage ich, „das war auch echt schade. Und es ist ja schön, dass er sich so auf dich freut. Bestimmt hast du ihm dann auch leidgetan, weil es dir so schlecht ging.“
„Und selber hat er sich auch arg leidgetan“, ergänzte sie und grinste verschmitzt auf ihr Salzstangerl.
Carola Fuchs
Wie der Traum von der kleinen Familie begann und schließlich den Bach runterging, ist in “Mama zwischen Sorge und Recht” zu lesen.
Unfassbar, ich könnte … nein, ich werde jetzt nicht unsachlich. Aber ich finde es entsetzlich, was der armen Katja da zugemutet wird, und wie egoistisch der Vater ist! Spürt er nicht, wie schwer es Katja fällt? Wie kann er von einer kranken 10jährigen verlangen, dass sie für ihn Verständnis hat? Er sollte für sie Verständnis haben und alles dafür tun, dass sie gesund wird. Und auf seine Tochter hören, denn sie wird selber am besten wissen, was sie braucht.
Davon abgesehen: ein krankes Kind gehört dahin, wo es sich am wohlsten fühlt und wo es in Ruhe gesund werden kann. Wenn das der Vater ist, dann ist das so, und wenn das die Mutter ist, dann ist das auch so!
Wie immer sehr treffend ge- / beschrieben. Letztendlich schlimm , das Kinder in eine Rolle gedrückt werden, die ihnen gar nicht passt. Sie sind keine kleinen Erwachsenen ,, sie sollten sich nicht rechtfertigen müssen, warum jetzt gerade mal was nicht geht, zumal schon gar nicht bei Krankheit. Ihnen gehört unser Schutz und Fürsorge! Schade, dass das manch ein Elternteil nicht verstehen will oder kann, besonders die Elternteile, die Trennungskriminalität betreiben!
Ein krankes Kind gehört zur Mama!
Kindeswohlaktiv-MKR
Die Geschichte hört sich wie unsere eigene an! Es tat gut zu lesen, dass es nicht nur meiner Tocher so geht. Und noch mehr nehme ich dankend die Gedanken der Mutter an, das Kind dabei zu begleiten stark zu werden!
Schön auch der letzte Satz! Die Kinder verstehen also doch mehr, als wir denken und durchschauen vor allem die Dinge :-)!
Vielen Dank.
Wenn einKind krank ist, reicht das Attest vom Arzt und Umgang kann selbstverständlich ausgesetzt werden. Es ist wichtig, das auch den Kindern zu vermitteln, denn es geht um ihre Rechte.
Oh ich möchte diesen Text so gern der Kinder – Beistandsschaft schicken. Die ist auch von so vielem überzeugt.
Toll, das Katja sich getraut hat.