Wer nicht hören will … muss nicht fühlen
Geht es euch auch manchmal so? Die Kinder haben sich einen gehörigen Unsinn in den Kopf gesetzt und sind mit Argumenten einfach nicht zu erreichen?
Wenn das Vorhaben nicht gerade lebensbedrohlich ist, dann lasse ich Katja einfach machen und nehme mich mit dem Gedanken „Wer nicht hören will, muss fühlen“ aus der Sache raus.
Viele Erfahrungen müssen Kinder eben selber machen und einige davon müssen ein bisschen wehtun.
Der Haken bei der Sache
Bei der derzeit hochkochenden Diskussion um das Wechselmodell, das neuerdings laut BGH-Urteil auch gegen den ausdrücklichen Willen eines Elternteils angeordnet werden kann, geht es mir ähnlich.
Ich denk mir dann: Was soll’s, ich bin nicht betroffen, mir tut es nicht weh. Früher oder später werdet ihr schon sehen, dass das nicht funktionieren kann.
Aber in diesem Fall hat das Prinzip „Wer nicht hören will, muss fühlen“ einen Haken:
Diejenigen, die nicht hören wollen, müssen später nicht fühlen. Es sind die Kinder die traumatisiert werden.
Bis diese Folgen für die Gesellschaft spürbar werden, ist schon viel zu viel kaputt gegangen.
Widersprüchlichkeit lässt hoffen
Außerdem zeigt die Widersprüchlichkeit des kürzlich veröffentlichten BGH-Urteils, dass noch gar nicht alles verloren ist. Im Gegenteil. Es ist nämlich nicht so, dass die Argumente nicht gehört werden, sie sind einfach noch gar nicht angekommen. Das ist auch verständlich, weil die Zeiten der Universalgelehrten schon lange vorbei sind und es unmöglich ist, im eigenen Fachbereich alles zu wissen, von gänzlich unverwandten Disziplinen ganz zu schweigen.
Nennt mich einen unverbesserlichen Optimisten, aber vielleicht gelangen diese 10 wichtigsten Argumente für ein Wechselmodell auf rein freiwilliger Basis – wenn überhaupt – an die richtige Adresse.
1. “Kinder leiden nicht unter der Scheidung ihrer Eltern, sondern unter schlechten Beziehungen“, sagt Remo Largo, renommierter Kinderarzt und Autor.
2. Bei einem Wechselmodell per Gerichtsbeschluss sind sich die Eltern nicht einig. Das bedeutet für das Kind, regelmäßig eine Grenze zwischen zwei sich bekriegenden Feinden zu passieren, und damit sind wir wieder bei Punkt 1.
3. Residenzmodell heißt auch, dass das andere Elternteil, wenn alle damit einverstanden sind, mehrmals die Woche sein Kind sehen kann. Warum auch nicht?
Wenn das nicht klappt, dann liegt es nicht am Modell, sondern an der Strittigkeit der Eltern und schon sind wir erneut bei Punkt 1.
4. Kinder hat man nicht im Sinne von Besitz. Die Besonderheit der elterlichen Liebe liegt darin, dass man dem Kind alles gibt, nicht um es zu behalten, sondern damit es uns verlässt. (A)
Eltern sind also nicht zwei Besitzer, die im Trennungsfall „logischerweise“ ihre Hälfte des Kindes beanspruchen. Oder?!
Wenn nun jemand vor Gericht seine Hälfe vom Kind beansprucht, stellt sich zumindest mir die Frage, ob er seine Aufgabe als Elternteil richtig verstanden hat.
5. Aus der Entwicklungspsychologie weiß man: Ein Baby hat zunächst keinen Bezug zu sich selbst. Es existiert nur im Bezug zu seiner Mutter – oder über die Person, die die Mutterfunktion erfüllt. Wenn die Mutter aus seinem Umfeld verschwindet, kann es sehr schnell das Gefühl bekommen, es wird sie nie wiedersehen.
Für seine Verhältnisse gleicht eine Woche ohne Mutter einer Entwurzelung, denn das Kind verliert nicht nur die Mutter, sondern es verliert sich selbst. (A)
6. Diese traumatischen Erfahrungen der Entwurzelung haben v.a. für kleine Kinder schwerwiegende Folgen, die sich in Angstzuständen, Identitätsproblemen, Schlafstörungen und/oder Aufmerksamkeitsdefiziten zeigen. (B)
7. Traumatische Erlebnisse, und der Verlust der Mutter bzw. von sich selbst (siehe Punkt 2) ist eindeutig traumatisierend, haben sogar noch weitreichendere Folgen. Denn sie können das Erbgut umprogrammieren. Beispielsweise wird das FKBP5-Gen derart verändert, dass es überaktiv ist, wodurch die Produktion des Stress-Hormons Cortison auf Hochtouren läuft. Die Betroffenen befinden sich im Dauerstress, mit allen physiologischen und psychischen Konsequenzen.
Das veränderte FKBP5-Gen wird an die Nachkommen weitergegeben, die ebenfalls – ohne selbst traumatisiert zu sein – vermehrt das Stress-Hormon Cortison ausschütten. (B)
8. Traumatische Erlebnisse verringern sogar die Lebenserwartung. Denn die Schutzkappen am Ende der Erbinformation – die Telomere – verkürzen sich, wenn die Seele der Kinder leidet.
Dadurch erhöht sich ihr Krankheitsrisiko, und ihre Lebenserwartung sinkt. Stress macht Kinder – genetisch gesehen – also zu Greisen, während ihr Körper noch im Wachsen ist. (B)
9. Auch bei der Entwicklung des Gehirns wurden bei traumatischen Erfahrungen in der Kindheit Veränderungen nachgewiesen:
Der Mandelkern, der als Angstzentrum im Gehirn gilt, ist überaktiv und der Stirnlappen, der dieses Angstzentrum kontrollieren soll, verkleinert sich.
Ein sensibles Angstzentrum und einen verkleinerten Gedächtnismotor findet man übrigens auch bei Patienten mit Depressionen, Schizophrenie und Borderline-Störung.
Das sollte uns zu denken geben! (B)
10. „Wesentlicher Aspekt ist zudem der vom Kind geäußerte Wille, dem mit steigendem Alter zunehmendes Gewicht beizumessen ist“, ist in dem BGH-Urteil zu lesen.
Was sich zunächst gut anhört, erweist sich bei genauerer Betrachtung als äußerst problematisch
Man weiß, dass Kinder oft meinen sie seien an der Trennung ihre Eltern Schuld, obwohl sie nichts dafür können. Man stelle sich die Schuldgefühl eines Kindes vor, das sagen muss: „Ich will nicht zur Hälfte bei meinem Vater leben oder andersrum? Die Kinder nach ihrer Meinung zu fragen, ist nicht in ihrem Interesse und es ist sogar sehr brutal für sie. Es ist der Vorschlag von Erwachsenen, die übersehen (oder übersehen wollen), wie ein Kind tickt.
Es ist also nicht Sache des Kindes zu sagen wo es hin will, gerade, weil es ein Kind ist! (A)
Ich finde, das sind 10 Argumente, die man sich zu Herzen nehmen sollte.
Ob man dann noch reinen Gewissen darüber nachdenken kann, jemandem das Wechselmodell aufzuzwingen, wage ich zu bezweifeln.
Hier geht es zur Petition “Wir protestieren gegen das BGH Urteil zum Wechselmodell!”
Carola Fuchs
Meine Geschichte zeigt, dass es auch ohne Wechselmodell schwer genug für die Kinder ist.
Die oben erwähnten Argumente aus der Kinderpsychologie und der Epigenetik sind folgenden Artikel entnommen:
A. Leid macht Kinder zu Greisen, BILD DER WISSENSCHAFT
B. Familiengesetz: wie steht es um das Kind?, Psychologies.com
Herzlichen Dank an Lenaik Catherine Le Heritte für die Übersetzung aus dem Französischen! <3
Hallo Carola, vielen Dank für diesen tollen Artikel!! So klar war mir das bisher nicht ‘wer letzendlich fühlt sind die Kinder’ und nicht die Eltern die das ganze verbockt haben. Ja, sehr traurig, dass alles auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird.
Liebe Karoline, danke für deinen Kommentar!
Die Geschichte zeigt, wenn etwas schief läuft, fragt man sich oft im Nachhinein, wie blind die Beteiligten gewesen sind und wie sehr sie sich durch Zeitgeistströmungen beeinflussen haben lassen.
Ich habe nun die Befürchtung, dass genau das zur Zeit im Hinblick auf Sorgerechts- und Umgangsregelungen zutrifft.
Der Schwerpunkt der Diskussion liegt auf Gleichberechtigung zwischen den Eltern. Diese suggerierte Notwendigkeit steht so im Vordergrund, dass viele das Naheliegende vollkommen übersehen:
Kinder sind kein Eigentum und deshalb geht es nach einer Trennung nicht darum, sie gerecht aufzuteilen. Für sie ist es am wichtigsten, die Eltern in ihrer Elternrolle möglichst konfliktfrei zu erleben. Durch die Entwicklungen im Sorge- und Umgangsrecht der letzten Jahre ist aber genau das nicht gewährleistet, weil sie mehr dazu dienen Machtkämpfe auszufechten, anstatt den Kindern eine friedliche Kindheit zu bieten.
Und das ist – wie du sagst – sehr traurig!